Dienstag, 31. März 2015

Hall of Mirrors

Buchbesprechung:

Barry Eichengreen: Hall of Mirrors: The Great Depression, The Great Recession, and the Uses – and Misuses – of History, Oxford University Press, London, New York, 2015.


Queen Elizabeth II, die englische Königin hat im November 2008 an der London School of Economics (LSE) aufgrund der dramatischen Ereignisse an den Finanzmärkten gefragt, warum niemand die Krise hat kommen sehen.

Die Frage ist mehr als berechtigt und vernünftig, da die Great Recession (2008-2009) und die Great Depression (1929-1933) im Zusammenhang stehen und die zwei grössten Finanzkriesen unseres Zeitalters darstellen.

Die unübersehbaren Parallelen (Kredit-Booms, zweifelhafte Banking-Praktiken und ein fragiles globales Finanzsystem usw.) zwischen diesen Abschnitten sind zudem im Kreis von Menschen mit Verantwortung für die Wirtschaftspolitik gut bekannt. Der praktische Ansatz, die Krise aus der Perspektive der 1930er Jahre zu betrachten, wurde beispielsweise am Anfang von Ben Bernanke, dem Fed-Präsidenten und Christina Romer, der Wirtschaftsberaterin des Präsidenten Obama augenfällig vorgestellt.

Dass die Erfahrung aus der Great Depression die Wahrnehmung und die Reaktion auf die Great Recession geprägt hat, ist weitverbreitet. Aber zu verstehen, wie die Geschichte daraus gebraucht und missbraucht wurde, erfordert einen genauen Blick nicht nur auf die Depression, sondern auf die Entwicklungen seither, bemerkt Barry Eichengreen im Vorwort seines neuen, grossartigen Buches.

Der an der University of California, Berkeley lehrende Wirtschaftsprofessor geht daher vorerst auf die 1920er Jahre zurück und erläutert, wie Regierungen und Märkte auf solche Finanzkrisen im Allgemeinen reagieren, und zwar unabhängig davon, ob die Amtsleute dabei wie Herbert Hoover Englisch oder wie Heinrich Brüning Deutsch sprechen.

Wenn das Versagen der Amtsleute, die Zinsen zu senken und die Finanzmärkte mit Liquidität zu überfluten, damals zu Deflation und Depression geführt hat, müssten die Entscheidungsträger heute darauf mit einer lockeren Geldpolitik und finanzpolitischen Massnahmen reagieren. Wenn die Bemühungen der Amtsleute um Haushaltskonsolidierung die Rezession damals verschärft hat, müssten die Entscheidungsträger heute Fiscal Stimulus einsetzen. Doch die Fed war jetzt zurückhaltend, mehr zu tun. Und die EZB war darauf bedacht, weniger zu tun.

Eichengreen benennt in diesem Kontext einige der fehlgeleiteten Massnahmen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er betont erstens, dass „das 90%-Kriterium“ ("the 90 percent rule“) nicht greift, weil das schwache Wachstum die Verschuldung erhöht, nicht umgekehrt.

Und zweitens unterstreicht er, dass es nicht glaubwürdig ist, von der Austeritätspolitik expansive Wirkungen zu erwarten, v.a. wenn (a) die Nominalzinsen nahe null liegen, (b) die Mitgliedstaaten  in der Eurozone nicht über eigene Währung verfügen, die abgewertet werden kann, um die fehlende Nachfrage durch Exporte zu ersetzen und (c) alle fortgeschrittenen Volkswirtschaften schwer angeschlagen sind und kein Land seine Exporte steigern kann.

Auch wenn es den Behörden heute gelungen ist, eine Vertiefung der Notlage an den Finanzmärkten zu verhindern, reicht es nicht aus, eine schwerwiegende Rezession in der gesamten Wirtschaft zu unterbinden. Es genügt nicht, die Wirtschaft anzukurbeln, wenn aufgrund der anhaltenden Risikoaversion eine Zurückhaltung in Sachen Kreditaufnahme und Kreditvergabe vorherrscht. In solchen Umständen ist es notwendig, die Ausgaben der öffentlichen Hand zu erhöhen, um die fehlende Nachfrage durch den Privatsektor auszugleichen, erklärt Eichengreen.

Eichengreen behauptet nicht, dass die Entscheidungsträger in den USA und Europa heute aus der Geschichte nichts gelernt hätten. Worauf der Ökonom Wert legt, ist, hervorzuheben, warum sie auf den dramatischten Zusammenbruch der Wirtschaft seit Generationen mit halbherzigen Massnahmen und halbfertigen Eingriffen reagiert haben: Es ist die Dominanz der monetaristischen Schule.

Es geht nicht einmal darum, zu prüfen, ob die Vorherrschaft der monetaristischen Ideen von einem empirischen Nachweis getragen wird oder nicht. Es ist eine Tatsache, dass die Wissenschaft der Ökonomie nur allzu oft von der Politik vereinnahmt, ja völlig verzerrt wird, wie Brad DeLong in einem aktuellen Artikel schildert.

Die politischen Entscheidungsträger waren nach 2008/2009 nicht bereit, über die von der monetaristischen Schule vertretenen Ideen hinauszugehen und sich z.B. an wirtschaftspolitische Konzeption à la Keynes und/oder Minsky zu wenden, um die Probleme, die die Great Recession hervorgebracht hat, anzupacken.

Die unzureichende Antwort auf die Probleme von heute geht also laut Eichengreen auf die monetaristisch geprägten Ideen, die in der Gegenwart als neoliberal bekannt sind, zurück. Das Buch ist bis heute mit Abstand die beste, glaubwürdige Erklärung für das Versagen der politischen Entscheidungsträger, die gegenwärtigen Probleme anzugehen.  Und es beschreibt zugleich, wie die Unfähigkeit der Politik, dem Leiden von Millionen von arbeitlosen Menschen endlich ein Ende zu setzen, eine Gegenreaktion gegen den Staat und die Zentralbanken auslöst.

Eichengreens mit viel Fingerspitzengefühl geschriebenes, hoch intellektuelles Buch legt ohne Polemik dar, dass nicht nur der Erfahrung, sondern auch der Einsicht der historischen Ereignisse der wirtschaftspolitischen Natur bedarf, um zum Schluss zu kommen, dass die Lösung der gegenwärtigen Probleme mehr, nicht weniger Staat erfordert. Und während Massenarbeitslosigkeit immer mehr Humankapital zerstört und das soziale Gefüge in Europa gefährdet, vergeht die Zeit. 

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