Sonntag, 11. Dezember 2016

Rethinking Capitalism


Buchbesprechung:

Michael Jacobs and Mariana Mazzucato: Rethinking Capitalism. Economic and Policy for Sustainable and Inclusive Growth, Wiley Blackwell, Malden and Oxford, 2016.

Das vorliegende Buch befasst sich im Wesentlichen mit der Frage, was die Probleme des modernen Kapitalismus sind und wie sie wirtschaftspolitisch angegangen werden können. Es geht darum, zu zeigen, wie die Zukunft der Wirtschaftspolitik aussehen soll und welche Rolle der Staat dabei spielt. 

Die neoklassische Theorie postuliert zwar, dass der Staat eingreift, wenn es zum Marktversagen kommt. Aber Mariana Mazzucato, die seit Jahren den Zusammenhang zwischen Innovation und Wachstum forscht, legt dar, dass ein aktiver Staat nicht nur die Fehlschläge im wirtschaftlichen Geschehen korrigiert, sondern darauf hinarbeitet, Märkte zu schaffen und zu gestalten, ganz im Sinne von Karl Polanyi.

Der Begriff, den die an der Sussex University lehrende Wirtschaftsprofessorin dazu prägt, lautet „Unternehmerstaat“ (entrepreneurial state).

Denn die öffentliche Hand kann nicht nur die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisieren, wenn die privaten Ausgaben zu knapp sind, sondern auch die „animal spirits“ des Privatsektors stimulieren.

Das ist die Botschaft, die die Autoren in den einzelnen Beiträgen vermitteln. Die separaten Artikel fügen sich makellos zu einem Ganzen zusammen, sodass sich das ganze Buch auch am Stück gut lesen lässt.

Die fortgeschrittenen Volkswirtschaften leiden heute unter einer besonderen Krise, die seit 2008 anhält. Es fehlt an längerfristigen Investitionen. Die Nachfrage ist Mangelware. Die Herausforderungen betreffen in erster Linie die Aspekte der vorherrschenden Wirtschaftstheorie und die daraus hergeleiteten konjunkturpolitischen Rezepte, die bisher in die Praxis umgesetzt wurden, ohne aber die Preisstabilität gewährleisten zu können und für die Vollbeschäftigung zu sorgen. 

Im Mittelpunkt der Kritik und der Analyse steht deshalb die „orthodox economic theory“, d.h. die (wirtschaftspolitische) Ansicht, die die öffentliche Debatte dominiert, aber auch im akademischen Lehrfach das Schwergewicht ausmacht. Die Regierungen werden angehalten, wenn nicht jedes Jahr, aber doch auf mittlere Sicht immer einen ausgeglichenen Etat anzustreben. Staat und private Haushalte werden zudem auf eine Stufe gestellt. Das heisst, dass die Ausgaben von den Einnahmen und der Fähigkeit, Fremdkapital aufzunehmen, abhängen. Und die Finanzmärkte befinden über die Kreditwürdigkeit der Wirtschaftsakteure. Dass diese Prämisse irreführend ist, wird von den Autoren bereitwillig angepackt und in Einzelheiten widerlegt.

Zwei auffällige „Eckpfeiler“ des vorherrschenden Systems sind beispielsweise „short-termism“ (kurzfristige Orientierung von Managern und Finanzakteuren) im privaten Sektor und die allgemein verfolgte Austerität im öffentlichen Sektor. Mazzucato hält deswegen „patient finance“ für unabdingbar. Wie es organisiert und mit einem breit definierten Mandat interagieren soll, um die Richtung der Wirtschaftspolitik festzulegen, scheint zwar auf den ersten Anblick schwer. Aber die Verfasser des Buches sind zuversichtlich und beherzt: sie argumentieren allgemein verständlich und kohärent. 



Investitionen in der Eurozone, in Grossbritannien und den USA, Graph: Rethinking Capitalism, Wiley Blackwell, 2016

Stephanie Kelton erläutert beispielsweise anhand des „sectoral financial balances“-Ansatzes (Finanzierungssalden der Sektoren), warum das einzelwirtschaftliche Denken für die Gesamtheit falsch ist: Die Ausgaben des einen sind die Einnahmen des anderen. Dass Wettbewerbsfähigkeit ein relatives Konzept ist und die Welt als Ganzes ihre Konkurrenzfähigkeit nicht verbessern kann, veranschaulicht die an der University of Missouri-Kansas City lehrende Wirtschaftsprofessorin ausführlich.

L. Randall Wray erläutert, dass wir uns zunächst mit der „Eigenschaft des Geldes“ auseinandersetzen müssen, um die Rolle der Fiskalpolitik in der Wirtschaft angemessen zu verstehen. Die „orthodox theory“ kann sich mit dem „fiat money“ nicht anfreunden, weil sie das Geld als „exogen“ betrachtet. Geld hingegen wird geschaffen, wann immer eine Geschäftsbank Kredit vergibt, unabhängig von Kundeneinlagen. Es ist die Nachfrage nach Kredit durch Unternehmen und private Haushalte in der Volkswirtschaft, die das Geldangebot bestimmt. Das Geld ist also „endogen“ in der Realwirtschaft, und zwar nicht unabhängig von der Herstellung von Gütern und Dienstleistungen. Das ist laut Wray das Herzstück der „modern money theory“.

Für ein Land mit einer eigenen Währung sind die Staatsausgaben deshalb nicht durch die verfügbare Finanzierung via Steuereinnahmen oder Fremdkapital eingeschränkt, schreibt der am Levy Economics Institute forschende Wirtschaftsprofessor. 

Das bedeutet aber nicht, dass der Staat die Ausgaben unbegrenzt erhöhen kann. Finanziell gibt es zwar keine Einschränkungen, aber die Ressourcen müssen dabei beachtet werden; bei positiver Produktionslücke (output gap) können erhöhte Ausgaben zu Inflation führen. 


Lohnwachstum und Arbeitsproduktivität, Graph: Rethinking Capitalism, Wiley Blackwell, 2016


Joseph Stiglitz befasst sich mit dem Thema Ungleichheit, die seiner Meinung nach tendenziell auf dem Wirtschaftswachstum lastet. Der an der Columbia University lehrende Wirtschaftsprofessor prononciert, warum die von der neoklassischen Lehre vorgetragene „Theorie von der individuellen Grenzproduktivität“ abwegig ist, die Problematik der Ungleichheit zu erklären. Im Grunde genommen ist es ganz einfach gesagt: es gibt keine individuelle Grenzproduktivität. Die Arbeitsteilung ist heute so hoch spezialisiert, dass der Beitrag eines Arbeitnehmers pro Stunde weder messbar noch eindeutig identifizierbar ist.

Was ist die Grenzproduktivität einer Krankenschwester in einem Krankenhaus? Die neoklassische Idee ist unrealistisch. Sonst müssten die Löhne von Busfahrern, Fensterputzern, Psychotherapeuten usw. jedes Jahr gekürzt werden.

Dass zum Beispiel die hohe Vergütung der Manager ihre Produktivität nicht widerspiegelt, zeigt die fehlende Korrelation zwischen der Entlohnung und der Performance der Unternehmen, wie Stiglitz mit Hinweisen auf diverse Studien visualisiert.


Reales Einkommenswachstum nach Steuern, Graph: Rethinking Capitalism, Wiley Blackwell, 2016


Colin Crouch macht den Leser in einem komplexen Artikel, gestützt auf die tiefsitzenden Merkmalen des anhaltenden Prozesses der Privatisierung- und Outsourcing von öffentlichen Diensten, darauf aufmerksam, wie ein Wandel von „market neoliberalism“ hin zu „corporate neoliberalism“ stattfindet, was im Grunde genommen Ergebnisse liefert, die im Widerspruch zu den Forderungen des Neoliberalismus stehen, wie z.B. die Rolle des Marktes zu erhöhen und die Rolle des Staates in der Wirtschaft zu reduzieren.

Was der Wirtschaftsprofessor (University of Warwick) damit zum Ausdruck bringen will, ist der Anstieg von Oligopol-Formen und damit zusammenhängend eine eingeschränkte Konkurrenz. Die Rede ist von politisierten Unternehmen, die wie z.B. „too-big-to-fail“-Fälle staatliche Garantien geniessen und der öffentlichen Hand dadurch mehr Kosten aufbürden als es sonst z.B. ohne Privatisierung und/oder Outsourcing gewesen wäre. Das Ergebnis ist nicht nur eine Verschlimmerung der Ungleichheit, sondern auch eine Gefährdung der positiven Beziehung zwischen dem Kapitalismus und der Demokratie.

Das provokative Buch ist erfrischend und unbedingt lesenswert.




1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

"L. Randall Wray erläutert, dass wir uns zunächst mit der „Eigenschaft des Geldes“ auseinandersetzen müssen, um die Rolle der Fiskalpolitik in der Wirtschaft angemessen zu verstehen. Die „orthodox theory“ kann sich mit dem „fiat money“ nicht anfreunden, weil sie das Geld als „exogen“ betrachtet. Geld hingegen wird geschaffen, wann immer eine Geschäftsbank Kredit vergibt, unabhängig von Kundeneinlagen. Es ist die Nachfrage nach Kredit durch Unternehmen und private Haushalte in der Volkswirtschaft, die das Geldangebot bestimmt. Das Geld ist also „endogen“ in der Realwirtschaft, und zwar nicht unabhängig von der Herstellung von Gütern und Dienstleistungen. Das ist laut Wray das Herzstück der „modern money theory“.

Da wir in "Geldwirtschaft" leben ist es entscheidend die geldgesteuerte Wirtschaft zu verstehen. "Das Geld" bestimmt die Nachfrage, nicht die staatliche Konjunkturprogramme, Sparquoten und Kapitalmärkte. Wirtschaftswachstum hängt von der Investitionsdynamik in der realen Wirtschaft ab - das ist doch nicht so schwer zu verstehen! Und die erreicht man nur mit Kreditexpansion in eben diese realwirtschaftliche Projekte. Wer das macht ist zweitrangig, es muss aber getan werden - sonst gibt es kein Wachstum. Kreditexpansion für realwirtschaftliche Zwecke bedeutet Geldmengenwachstum für die Realwirtschaft. Es ist nicht egal wofür Kredit vergeben wird!-im Gegenteil.